Das „komische Gefühl“: Phantombeschwerden bei Neuropathie

Das „komische Gefühl“: Phantombeschwerden bei Neuropathie


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Bild: Elnur | stock.adobe.com

Wenn in der Podologie die Sensibilität geprüft wird, wird in der Regel die Frage nach Missempfindungen wie Kribbeln oder Ameisenlaufen gestellt. Fehlsignale durch fortschreitende Nervenschäden können sich aber noch vielfältiger, teilweise sogar absurd darstellen. Genauer hinzuhören, lohnt sich: Da es derzeit kein flächendeckendes Screening für Nervenfunktionsstörungen gibt, übernimmt die Podologie hier eine wichtige Rolle in der Früherkennung. Darüber hinaus können wir Tipps zur Dämpfung von Missempfindungen an die Hand geben.

 

Ursachen für Missempfindungen

Eine sensorische Neuropathie ist ein progredienter Prozess, bei dem vor der Taubheit eine lange Phase der Fehlverarbeitung von Nervensignalen vorgeschaltet ist. Was sich relativ harmlos anhört, ist im echten Leben teilweise unerträglich und beängstigend, und führt zu gefährlichen Situationen.

Phantombeschwerden können sein:

  • Plötzlicher, starker Juckreiz, „…sodass man auf der Autobahn auf dem Standstreifen anhalten und sich blutig kratzen muss“
  • Gefühl, als laufe Wasser an der Innenseite der Beine herunter, „als hätte man das Wasser nicht halten können“
  • Gefühl, als sei die Haut zu dick, sodass man sich selbst die Haut in Fetzen abreißen muss
  • Die Bettdecke tut unerträglich weh, sodass man ein Fuß-Zelt bauen muss, um schlafen zu können
  • Stechende, unerträglich einschießende Schmerzen unter der Nagelplatte, sodass man sich selbst Teile des Nagels aggressiv entfernen muss
  • Die Schuhe/Strümpfe fühlen sich zu eng an, wie ein Schraubstock, oder viel zu weit, wattig und locker, sodass man extrem enge Schuhe tragen muss, um „Halt zu haben“
  • Unruhige Beine, Bewegungsdrang
  • Krämpfe und einzelne, unwillkürliche Zuckungen
  • Stromschläge, blitzschlagartige Schmerzen, pulsierendes Gefühl

Typischerweise treten die Symptome häufiger in Ruhephasen/abends und nachts auf und werden bei Aktivität/tagsüber schwächer.

 

Warnzeichen ernst nehmen

Der Prozess der Nervenschädigung muss nicht zwangsläufig fortschreiten. In der Entwicklungsphase können ärztliche Diagnostik und gezielte Behandlung (Regulierung der Stoffwechsellage, Vitamin B12, Zirkulationsförderung) den Verlauf erheblich verlangsamen oder sogar stoppen. Bei einigen Formen der Neuropathie (vor allem toxische NP-Formen durch Chemotherapie oder Alkohol, bei denen die Schäden sich schnell entwickeln) kann es sogar zu einer Remission und Verbesserung der Sensibilität kommen.

 

Was können Betroffene tun?

Der erste Schritt ist die ärztliche Diagnostik, bzw. die Symptome auch mit einem behandelnden (Fach-)Arzt zu besprechen. Aus podologischer Sicht ist die Dokumentation und Beobachtung wichtig, um Veränderungen im Blick zu behalten. Um mit den Beschwerden umzugehen und quälende Phasen zu lindern, sollte die Beratung verschiedene dämpfende Maßnahmen umfassen.

 

Dämpfung von überschießenden Nervensignalen

Ganz allgemein wird in der neurologischen Physiotherapie bei Nervenfehlsignalen mit Druck und starken Reizen auf die Haut und das Weichteilgewebe gearbeitet, am besten kurz vor den Ruhephasen oder bei Bedarf. Dabei sollte der Reiz dem Signal „ebenbürtig“ sein, also bei starken Symptomen starke Reize.

Das könnte sein:

  • Kaltes Abduschen
  • Abstreichen mit einem Eislolli
  • Trockenbürsten (bei robuster Haut)
  • Reiben mit einem rauen Handtuch
  • Kräftiges Kneten und Walken der Haut
  • Klatschen auf den „aktiven“ Bereich
  • Rollen mit einem Igelball
  • Vibrationen, z. B. Stehen auf einer Vibrationsplatte
  • Kräftiges Ausstreichen mit den Fingerknöcheln
  • Ablenkung mit anderen Reizen, z. B. Kneifen an anderer Stelle

Eine weitere Maßnahme ist das Benutzen einer schweren Gewichtsdecke. Diese gibt es kostengünstig in unterschiedlichen Gewichtsklassen. Schwere Decken regen die Oxytocin-Ausschüttung durch das Gefühl des „Gehalten-Werdens“ an wie bei einer festen Umarmung, und wirken beruhigend bei unspezifischen Überreizungssymptomen, bei chronischen Schmerzen und Unruhezuständen. Nebenwirkungen gibt es keine, weshalb sich das Ausprobieren auf jeden Fall lohnt.1

 

Fazit

Jede Person, die eine podologische Praxis erstmals betritt, profitiert von unserer Anamnese: Wenn vermeintliche „Phantombeschwerden“ als Krankheitssymptom erkannt werden, kann die frühzeitige interdisziplinäre Behandlung die Nervenfunktionen schützen und die Lebensqualität steigern. Aus therapeutischer Perspektive ist es wichtig, Betroffene mit Missempfindungen gut zu beraten, denn es gibt Strategien, die die Symptome handhabbar und erträglicher machen können.

 

 

Quellen

1https://www.jpain.org/article/S1526-5900(21)00313-8/fulltext

 

Unsere Autorin

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Anja Stoffel 
Physiotherapeutin und Podologin B.Sc. und sek. HP 
Fachdozentin und Praxisanleiterin für Berufe im Gesundheitswesen, Karlstein 
www.podovision.de
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